Healthy Living: das neue Statussymbol

Pizza, Pasta und Kebab sind fester Bestandteil unser aller Essgewohnheiten. Doch nicht nur die Kalorienbomben haben die globalisierte Speisekarte erobert, sondern auch Sushi, Grüntee und veganes Fastfood finden ihren Weg in die Mägen der westlichen Wohlstandsbäuche. Die Ausweitung der Essgewohnheiten, die uns Nimmersatten die Langeweile vertreibt, ist hierfür genauso ausschlaggebend wie die gute egoistische Gewissheit, […]

Wir befinden uns mitten in einem gesellschaftlichen Wandel. Das Healthy Living greift um sich. Die Sucht nach Perfektion verändert unseren Alltag. Körper, Schönheit und Gesundheit werden zu Statussymbolen.

Pizza, Pasta und Kebab sind fester Bestandteil unser aller Essgewohnheiten. Doch nicht nur die Kalorienbomben haben die globalisierte Speisekarte erobert, sondern auch Sushi, Grüntee und veganes Fastfood finden ihren Weg in die Mägen der westlichen Wohlstandsbäuche. Die Ausweitung der Essgewohnheiten, die uns Nimmersatten die Langeweile vertreibt, ist hierfür genauso ausschlaggebend wie die gute egoistische Gewissheit, mit dem Mittagessen zwischendurch dem Körper keine Bösartigkeiten zuzumuten. Schnell soll es sein, aber bitte gesund.

Der Wunsch nach einem gesunden Mittagessen ist Teil eines gesellschaftlichen Paradigmenwechsels. Unser Verständnis von Gesundheit verändert sich. „Gesund“ ist nicht mehr nur jener, der nicht krank ist, sondern sein Leben der ganzheitlichen Fitness verschrieben hat. Also ausreichend Sport treibt, weder raucht noch trinkt, sein Gedächtnis auf Trab und seine Emotionen im Zaum hält. Und nebenher noch auf eine Ernährung frei von Zusatzstoffen und mit ethisch korrekter Herkunft achtet.
Dieses Ideal gilt heute nicht mehr nur für elitäre Großstadtmuttis, die noch mit Yogamatte unter dem Arm zum Pilatestraining hetzen, sondern dringt langsam durch alle Schichten der Gesellschaft. Bestens an den Werbetafeln der Fitnesscenter abzulesen, die Monatsmitgliedschaften ab 10 Euro anbieten, oder im Bestreben der Discount-Handelsketten, selbst für die schmalste Geldbörse gesundes Essen anzubieten.

Wir bewegen uns auf eine Welt zu, die das britische Sprichwort „Your health is your wealth“ verinnerlicht zu haben scheint. Dieser Gesinnungswandel betrifft beinahe alle Alltagsbereiche. Die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheitsprävention, zwischen Konsument und Patient verschwimmen. Nur wer psychisch und physisch gesund durch den Lebensdschungel streift, hat gute Chancen, seine Lebensziele zu erreichen, wer noch schön dazu ist, die allerbesten. So will es die neue Doktrin des „Healthy Living“.

„Nur wer ausreichend Sport treibt, weder raucht noch trinkt, sein Gehirn auf Trab und seine Emotionen im Zaum hält, gilt heute als gesund.“

Tausche Smartphone gegen Freizeit. Der Trend, Gesundheit als neues Statussymbol zu verstehen, geht einher mit einer Entwicklung, die die immateriellen Dinge in den Fokus des menschlichen Strebens rückt. Nicht der Besitz eines neuen Smartphones ist erstrebenswert, sondern die Zeit, die wir ohne den digitalen Begleiter verbringen. Entgegen dem propagierten Boom der sozialen Netzwerke wünschen sich die Menschen eher einen „echten“ Freundeskreis.
Zudem Ruhe, Zeit und eben Gesundheit: Neun von zehn Statussymbolen sind mit Geld nicht zu kaufen. Einzig der Wohnraum schleicht sich noch als erstrebenswertes und bezahlbares Gut in die Ranglisten der Meinungsforscher ein. Beim Streben nach Status schauen wir verstärkt auf Dinge, die man sich mit Geld nicht kaufen kann. Für besonders erstrebenswert halten wir etwa, Zeit für uns und die Familie zu haben, körperlich fit zu sein oder viele Sprachen zu sprechen. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Online-Befragung der Berliner Strategieagentur Diffferent.

Für die Studie hat Diffferent eine Stichprobe von rund 2.000 Menschen online befragt. Außerdem wurden 30 Interviews mit Unternehmensvorständen und Wissenschaftlern zum Thema Statussymbole geführt. „In vielen Bereichen ist eine Sättigung eingetreten“, sagt der Autor der Studie, Dirk Jehmlich, Director Trends & Innovation bei Diffferent. Daher setzt der moderne Mensch dort an, wo die Sättigung per se nicht einsetzen kann, bei seinem unperfekten Körper.

„100.000 Apps sind auf dem Markt, die mehr oder weniger das Smartphone als Schnittstelle zwischen Patient und Arzt zu inthronisieren versuchen.“

Healthy Living über alles. Der Paradigmenwechsel bringt einen Begriff, der zugegebenermaßen nicht mehr ganz so neu ist, in das Wechselspiel aus Konsum und Zufriedenheit: Healthy Living. Eine einheitliche Definition von Healthy Living gibt es nicht. „Darunter werden üblicherweise Angebote und Programme für einen gesunden, individuellen Lebensstil zusammengefasst. Unternehmen als Arbeitgeber und die Nahrungs- wie auch Genussmittelindustrie spielen als Anbieter wichtige Rollen“, so Hans-Peter Münger, Direktor und Leiter Beratung Health Care bei PricewaterhouseCoopers. Doch das sind nicht alle Player, die durch den Wunsch nach ganzheitlicher Vollkommenheit im Wandel sind. Nehmen wir die relativ junge Technologiebranche: Der Linzer Florian Gschwandtner hat mit „Runtastic“ eine App entwickelt, die Jogging-Kilometer oder Stunden auf dem Ergometer sammelt und via Facebook den Bekannten mitteilt. Über 30 Millionen Menschen haben die Anwendung weltweit auf ihrem Smartphone. Um die Dimension ersichtlich zu machen: Runtastic ist eine von 100.000 Apps, die sich mit Ernährung, Fitness, Medikamention, Diagnosen-Übersetzungen beschäftigen und sogar das Smartphone als Schnittstelle zwischen Patient und Arzt inthronisieren. Alleine anhand dieser Bandbreite kann man getrost von einem Megatrend sprechen, wenn man den Anglizismus „Healthy Living“ in den Mund nimmt.

Das senegalesisch-französische Supermodel Dji Dieng, dekoriert mit dem Leading Ladies und dem United Nations Volunteer Award, äußert sich zu dem Thema wie folgt: „In erster Linie braucht es positives Denken und täglich Gegebenheiten, die mich und mein Umfeld zum Lachen bringen. Darüber hinaus, auch wenn es ein wenig esoterisch wirken mag, ist es wichtig, anderen zu helfen.“ Das Topmodel weiter: „All das kombiniert führt zu einer gesünderen Einstellung und damit auch gesünderem Leben.“ Dieses Zitat unterstreicht den ganzheitlichen Anspruch des Healthy Living. Tu anderen Gutes, sei nett zu dir selbst und füttere deinen Geist mit positiven Gedanken. Das zeigt die Tendenz sehr gut, dass die Mehrheit der Menschen in der übersättigten Gesellschaft eher zur Wissens- und Bewusstseinselite gehören will anstatt zur Geldelite, wie es auch die Studie der Berliner Strategieagentur Diffferent beweist.

GESUNDHEIT 2020

Laut der WHO (World Health Organization) stieg die Lebenserwartung seit 1980 um fünf Jahre an. Frauen werden im Schnitt 80 Jahre alt, Männer 72,5. Die Studie bezieht sich auf Gesamteuropa. Und es lassen sich gewaltige regionale Unterschiede feststellen. So werden die Menschen in Skandinavien deutlich älter als jene, die in den östlichen Staaten leben.

Die Initiative „Gesundheit 2020“ der WHO zielt darauf ab, dass durch bessere Zugänglichkeit von Patientendaten bessere Diagnosen gestellt werden können.

Über Gesundheit 2020


Die 10 neuen Statussymbole

Was wollen wir noch haben? Wo wollen wir hin? Meinungsforscher fragten nach dem Erstrebenswerten. Hier sind die Ergebnisse der Befragten durch alle Altersschichten:

1. Zeit 90 %
2. unbefristeter Arbeitsvertrag 85 %
3. gesund sein 84 %
4. eigenes Haus besitzen 80 %
5. richtig gut kochen können 75 %
6. Kinder haben 73 %
7. eine Ehe führen 77 %
8. einen Freundeskreis im echten Leben 60 % 9. ein gepflegter Garten 54 %
10. ein Auto 48 %


DAS MAKELLOSE GESICHT

Dr. Stephen Marquardt ist ein pensionierter Kieferchirurg, der sich in den letzten Jahrzehnten darüber den Kopf zerbrach, wie er Schönheit objektiv messbar machen könne. Marquardt geht von der Theorie aus, dass der Mensch durch seine hochgradig visuelle Veranlagung eine genaue Vorstellung davon hat, was er als schön empfindet. Je näher jemand diesem Ideal kommt, desto freundlicher und empathischer wird er aufgenommen.

Marquardt ist davon überzeugt, dass diese Idealvorstellung mathematischen Regeln folgt. Nach langen Jahren der Forschung legte er eine geometrische Gesichtsmaske vor, die als Blaupause für die Schönheit dienen soll.

Die Linien sollen die perfekten Proportionen im menschlichen Gesicht widerspiegeln. Entscheidend sind dabei die Abstände zwischen Augen, Nase und Mund. Als perfekt schön gilt unter anderem, wenn der Abstand zwischen den Pupillen nur halb so groß ist wie der zwischen den Ohren. Colgates Maße kommen in diesem Fall auf 44 Prozent. Außerdem soll der Abstand zwischen Augen und Mund etwas mehr als ein Drittel des Abstands zwischen Haaransatz und Kinn betragen. Colgates Wert liegt bei 32,8 Prozent. Ein weiteres Merkmal: Ihr Gesicht ist fast symmetrisch.

Der Ansatz wird heftig diskutiert. US-Menschenrechtsgruppen werfen Marquardt vor, dass er das ohnehin vorherrschende mitteleuropäische Ideal zementiert. Die Maske würde zu den Proportionen eines Menschen aus Afrika oder Asien schlicht nicht passen.


Das Triumvirat. Dji Dieng abschließend prägnant: „Good spirit brings good health and that leads to a good life.“ Der wachsende Wohlstand und der weit verbreitete Wunsch nach Selbstverwirklichung machen Körper, Schönheit und Gesundheit zu Statussymbolen. Und dieses „Triumvirat“ reicht sich quasi gegenseitig die Hände. Das eine kann nicht mehr sein ohne das andere. Der daraus entstehende Gesundheitsboom wird die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung über Jahre hinweg prägen.

So wünschenswert ein flächendeckendes Bewusstsein für den eigenen Körper auch ist, so erstrebenswert die Reflexion der eigenen Gesundheit, so profitabel für Unternehmen aus Pharma, Ernährung, Kosmetik, Wellness und Tourismus, so besorgniserregend sind auch die Ängste und Phobien, die die Perfektionssucht schafft. Leistungsdruck, Versagensängste und Gruppenzwang sind nicht erst seit gestern Einstiegsdrogen für soziale Abwärtsspiralen, die in ihrer Konsequenz auch die Gesundheit in Mitleidenschaft ziehen. Außerdem schafft dieses neue Statussymbol wiederum Role Models, deren perfektes Ebenbild für 98 Prozent der Bevölkerung nicht zu erreichen ist.

Die 18-jährige Florence Colgate erreichte nicht nur wegen ihres blitzsauberen Nachnamens die Endausscheidung einer britischen TV-Show. Sie setzte sich letztendlich gegen 8.000 Mitbewerberinnen durch, weil sie die perfekt zugeschnittenen Gesichtszüge hatte. Ein Computerprogramm wählte ihr Gesicht zum schönsten Model ohne Make-up und ohne Photoshop.

Raubbau am eigenen Körper? Nein danke! Doch legen wir den Fokus auf die positiven Auswirkungen; ganz im Sinne der Health-Doktrin. 4,3 Millionen Menschen stehen in Österreich täglich morgens auf, gehen acht Stunden ihrer Erwerbstätigkeit nach und verbringen den Abend mit den präferierten Freizeitbeschäftigungen. Diese 4,3 Millionen Menschen brauchen mehr Zeit. Massagen, Training und ausgewogene Ernährung wollen sorgsam ausgewählt und zelebriert werden. Der Bürojob geht sich alleine wegen der unbequemen und rückenschädigenden Sessel sowieso nicht mehr acht Stunden täglich aus. Generell sinkt die Bereitschaft, gesundheitliche Risiken für den Job einzugehen. So kann behauptet werden, dass der Mensch, der seine körperliche und geistige Gesundheit in den Mittelpunkt stellt, die Karriere als zweitrangig betrachtet – mit gewaltigen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Wenn die „Work-Life-Balance“ mehr als eine Luftblase, nämlich Forderung und Vertragsgegenstand wird, müssen Arbeitgeber sich auf neue Realitäten einstellen.

Mach es doch alleine! Laut „Looking Ahead“, dem SRI-Newsletter aus dem Hause Dexia AM, geht die Schweizer Firma Gamesa diesen Weg. Der Windkraftdienstleister gehört zu den Marktführern im Bereich erneuerbare Energien und beschäftigt weltweit über 7.000 Mitarbeiter. Gamesa bietet seiner Belegschaft umfassende Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Darüber hinaus werden Sicherheits- und Gesundheitstrainings offeriert. Im vergangenen Jahr hat jeder Angestellte durchschnittlich 32,8 Stunden solcher Maßnahmen „genossen“. Begreift man solche Schritte als bloßen Beginn einer Anpassung an die gesellschaftliche Realität, dann erkennt man das Ausmaß dieses Paradigmenwechsels, welcher den Arbeitgebern nicht nur Nachteile bringt: Ein gesunder Mitarbeiter arbeitet konzentrierter, ausdauernder und verursacht weniger Fehlstunden.


Die beschriebene „Work-Life-Balance“ darf als Nebengeräusch des Healthy Living verstanden werden. Der Arbeitnehmer will selbst entscheiden, wie viel Stress er sich und seiner Familie durch den Job zumutet. Geht man davon aus, dass in wenigen Jahren gut die Hälfte aller Beschäftigten vom Computer aus arbeitet und durch die technischen Neuerungen die Möglichkeit gegeben wird, den Arbeitsplatz und die Arbeitsumgebung nahezu immer selbst zu wählen, dann erkennt man die Umwälzung, die gerade im Gange ist. Das Büro wird durch Smartphone, Tablet und die ständige Erreichbarkeit obsolet. Die Katze beißt sich hier allerdings selbst in den Schwanz. Dieser Aspekt des Healthy Living kollidiert mit dem Wunsch nach Abgeschiedenheit und Ruhe. Der selbstbestimmte Arbeitsmensch muss erreichbar sein. Eine Theorie, die nach hinten losgehen kann, wenn nicht muss.

Sind wir glücklich?

Schlussendlich bleibt die Frage, ob uns das alles glücklich macht. Wir wollen gesund leben: Ja! Wir wollen schön sein: Ja! Wir wollen mit uns selbst im Reinen sein: Ja! Aber zu welchem Preis? Liegt nicht die Schönheit eines jeden Individuums in seiner Unperfektion? Sind es nicht die Mängel und Fehler, die uns am anderen Menschen gefallen, die ihn herausstechen lassen aus der großen, breiten Masse? Wie würden wir entscheiden, wenn uns Medizin und Technik die Chance geben, uns unserem Freudschen Über-Ich anzunähern? Man darf annehmen, dass die Suche und Sucht nach der Perfektion tief in der DNA verborgen liegt, unseren Antrieb und Ehrgeiz widerspiegelt und uns bereits viele Errungenschaften geliefert hat, die uns das Leben schöner, länger und angenehmer machen. Wir halten heute schon ganze Industrien mit unserem Drang nach der perfekten Jugend am Leben. Beginnen wir lieber damit, erneut neue Wege einzuschlagen: Akzeptieren statt konservieren. Gesundes Leben ohne Zwang zur Perfektion. Lassen wir Druck aus dem System. Werden wir in Würde älter. Fokussieren wir uns auf die Statussymbole, die uns wirklich weiterbringen: Ruhe, Zeit und Ausgelassenheit.

„Jedes immaterielle Symbol benötigt ein Produkt, in dem es sich manifestiert“

schreiben die Studienautoren aus Berlin. Wir kommen mit unserer Suche nach dem gesunden Leben also nur da an, wo uns die Marketing-Abteilungen dieser Welt schon lange haben wollen. Glänzen wir lieber mit unseren Moralvorstellungen als mit den neu gerichteten Zähnen, sonst implodiert unsere imperfekte Gesellschaft dort, wo sie schon immer einen Makel hatte: bei unserer ureigenen Gier nach Perfektion.

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