Lebensmittel-Unverträglichkeit:
Essen ohne Leiden

Lebensmittel-Unverträglichkeit. Beim Einkaufen von Lebensmitteln ist immer die Nährwerttabelle im Hinterkopf. Sie ist das Gesetzbuch des Shoppens. Nächste Kriterien: Herkunft, Inhaltsstoffe – hier vor allem möglichst mit dem Label „frei von“. Und auf gar keinen Fall dürfen es die bösen Inhaltsstoffe sein: Laktose, Gluten oder gar Weizen an sich, tierisches Eiweiß, Zucker. Die Verbotsliste wird […]

Wer die Trennkost-Welle, die Vollwert-Welle, die Low-Fat-Welle, die Welle mit den links- und rechtsdrehenden Molekülen, die Vegan-Welle überlebt hat, steht jetzt vor einer neuen Prüfung: der Lebensmittel-Unverträglichkeit bzw. der Alles-ist-schlecht-Welle. Das beste Rezept ist: Einfach nicht mitmachen.

Lebensmittel-Unverträglichkeit. Beim Einkaufen von Lebensmitteln ist immer die Nährwerttabelle im Hinterkopf. Sie ist das Gesetzbuch des Shoppens. Nächste Kriterien: Herkunft, Inhaltsstoffe – hier vor allem möglichst mit dem Label „frei von“.

„Immer voll Misstrauen den Nahrungsmitteln gegenüber, immer Angst vor zu viel – nämlich Fett, Kohlenhydrate, Salz.“

Und auf gar keinen Fall dürfen es die bösen Inhaltsstoffe sein: Laktose, Gluten oder gar Weizen an sich, tierisches Eiweiß, Zucker. Die Verbotsliste wird ständig länger. Einfach gesund, bewusst und mit Freude zu essen, passt für viele Menschen nicht mehr zur eigenen, auf Sorgsamkeit bedachten Lebensweise. Essen wird problematisiert. Denn die Verweigerungshaltung und die Ablehnung machen glücklicher.

Das Schlechte am Guten. Sich selbst unterdrücken ist ein klassisches Verhaltensmuster im westlichen Weltbild: Hinter jeder Freude muss eine Sünde stecken, Spaß ist immer suspekt. „Eine verlogene Logik“, die auch für das Essen gilt, ärgert sich Udo Pollmer, deutscher Lebensmittelchemiker in einem Interview mit der „Zeit“: „Es ist noch nie etwas als gesund bezeichnet worden, was die meisten Menschen gerne essen.“

Ein immer wiederkehrendes Prinzip dahinter sind Schuldgefühle: Wer Schweinsbraten mag, kann kein Guter sein. Veganern, Laktoseintoleranten glaubt man eine verantwortungsvolle Einstellung zu allem, was das Leben ausmacht, sofort. Sie erscheinen nach außen hin seriös und ernsthaft – in jeder Hinsicht. Und diese Ernsthaftigkeit wird als Teil der eigenen Wichtigkeit zelebriert und zur Schau gestellt. Die andere Form des Besserwissens ist das Bessersein. Die Lebensmittelindustrie ist der Nutznießer der übertriebenen Ess-Eitelkeiten.

„Mit dem Aufdruck „frei von“ erfolgt eine Aufwertung, das Produkt wirkt gesünder und vertrauenswürdiger.
Der Preis wird zur Nebensache.“

Ob es tatsächlich gesünder ist, auch. Und die Preise sind deutlich höher, damit steigt der Umsatz bei gleichem Marktanteil. Also ein Glücksfall für die Lebensmittelwirtschaft und den Einzelhandel.

Die Regale in den Supermärkten, auch die der knallharten Diskonter, sind zunehmend mit gewissenskonformen Produkten gefüllt. Es gibt nichts mehr, was nicht fettfrei, laktosefrei, glutenfrei, zuckerfrei, histaminfrei und frei von allem Möglichen ist. Auch die Katze und der Hund im nachhaltig sündenfreien Haushalt bleiben nicht verschont. Die Katze bekommt nur noch Sojamilch, weil sie besser für ihren Hormonhaushalt ist. Katzenmenüs und Hundefutter garantiert laktosefrei und weizenglutenfrei hat mittlerweile fast jeder Hersteller im Sortiment. Gemüse, Reis, Soja und eine Extraportion Vitamine reichen nicht mehr als Kaufargument. Die Nachfrage stimmt und alle sind glücklich.

Viele Restaurants passen sich ebenfalls den Lebensweisen ihrer sensiblen Zielgruppe an und verwenden nur noch Zutaten, die bei keinem der empfindlichen Gäste auf Ablehnung stoßen. Tim Raue, Starkoch in einem Nobelrestaurant in Berlin, ausgerechnet in Kreuzberg, dem früheren Zentrum der wenig essbewussten Punks und Anarchos, ist stolz auf die Zutaten, die allesamt gewissenskonform sind: „Alle Milchprodukte sind laktosefrei, die Küche glutenfrei“, verkündet er in der Tageszeitung „TAZ“. Er hat die „Modekrankheiten“, wie er es nennt, seiner Stammgäste akzeptiert und festgestellt, dass die Verbreitung der Befindlichkeiten in jüngster Zeit enorm zugenommen hat. Die Zahl seiner Gäste mit irgendeiner Unverträglichkeit ist verblüffend gestiegen, und zwar „massiv“ und das, sagt er, „ist eine freundliche Untertreibung“. Reine Mode aus seiner Sicht: „Vor zehn Jahren gab es das alles noch nicht. Von zehn Gästen haben vier irgendwas.“


  • Neurose der Neureichen. Bei der rasanten Zunahme von Lebensmittelunverträglichkeiten in den vergangenen Jahren drängt sich der Schluss auf, diese müssten ansteckend sein. Aber Laktoseintoleranz beispielsweise ist praktisch nur auf genetische Veranlagung zurückzuführen. Eine Infektion ist somit ausgeschlossen. Ansteckend ist jedoch die Sehnsucht, eine Besonderheit vorweisen zu können, die einerseits durch Besorgtheit für das eigene Wohl, die Kinder eingeschlossen, bis hin zu dem seiner Haustiere glänzen kann. Und man schafft es damit gesellschaftlich sogar in eine elitäre Nische. Man ist damit ein bisschen besser, solider, gewissenhafter, ganz im Sinne des Facebook-Moralismus, das reicht schon. Eine gesellschaftliche Ablehnung wird somit nicht riskiert, eher wohltuendes Mitgefühl. Schließlich ist es erschütternd, wenn der oder die Bekannte kein Obst mehr essen darf, weil ihm der Fruchtzucker das Leben zur Hölle macht.

    Es geht dabei nicht mehr um die Ernährung an sich. Die Auswahl muss zwanghaft nach den strikten, sich selbst auferlegten Richtlinien erfolgen.

  • „Die Themen rund um das Essen sind zu einer Art Ersatz- oder auch Zusatzreligion avanciert. Zuwiderhandeln kommt einer Sünde gleich, Schuldgefühle werden dankenswerterweise mitgeliefert.“

    Wer das Essen in weiten Teilen pathologisiert, läuft Gefahr, selbst zum Problem zu werden. „Damit ist die Grenze des Gesunden überschritten“, diagnostiziert der amerikanische Arzt Steven Bratman. Er hat das Phänomen beschrieben und ihm einen Namen gegeben: Orthorexie. Damit beschreibt er das nahezu krankhafte Bestreben, richtig zu essen und nebenbei das eigene kulinarische Weltbild missionarisch zu verbreiten. Bratman, einst selbst einer der „Health-Food-Junkies“, wie er die Gruppe nennt, die ihr Leben nach Kalorien- und anderen Nährwerttabellen ausrichtet und stets auf das Einhalten gesunder Ernährungsstrategien achtet, hält den Lebensstil für geplant elitär. „Jemand, der den ganzen Tag damit verbringt, nur Tofu und Quinoa-Kekse zu essen, kann sich so heilig fühlen wie jemand, der sein ganzes Leben den Obdachlosen gewidmet hat.“


Das Muster ist immer das gleiche: Zuerst werden Lebensmittel ausgeschlossen, um ein persönliches Leiden zu lindern. Nach und nach werden die selbst auferlegten Regeln immer strenger. Damit entwickelt sich die Essensbeschaffung allmählich zum Problem. War es zuerst nur das Vermeiden von Laktose, kommen im Laufe der Zeit weitere Ausschlusskriterien dazu. Genuss ist kein Thema mehr im Streben nach Erhalt der Vitamine und moralisch korrektem, nachhaltigem Einkauf der streng klassifizierten Lebensmittel.

Nicht jeden erwischt es mit der gleichen Intensität. Aber zumindest als eine weit verbreitete Modeerscheinung hat es bereits viele erreicht. Die Generation Google ist besonders schnell mit selbst erstellten Diagnosen, die angenehm ins eigene Wunschbild passen. Ein paar Unverträglichkeiten, ein Besserfühlen durch Umstellung auf Sojamilch sind schnell gemacht. Rasch kommt die Bestätigung im persönlichen Umfeld, weil bei der Freundin ist das ja schließlich auch so.

Restriktive Essgewohnheiten: ein urbanes Phänomen

Laut Untersuchungen tritt es auffallend häufiger in gehobenen Bildungsschichten und bei besserverdienenden Konsumenten auf. Noch eine Auffälligkeit: Es sind doppelt so viele Frauen als Männer davon betroffen.

Dass es Menschen gibt, die prominente Inhaltsstoffe in Lebensmitteln nicht vertragen, ist keine Frage. Schätzungen gehen von 15 bis 20 Prozent Betroffenen in der westlichen Bevölkerung aus. Im Falle einer Unverträglichkeit von Laktose, dem Milchzucker, müssen die Betroffenen in der Regel nicht gänzlich auf herkömmliche Milchprodukte verzichten, weil sie eine gewisse Menge an Milchzucker dennoch vertragen. In Käse und Joghurt ist ohnehin fast nichts mehr davon enthalten. Trotzdem kaufen in Deutschland rund 40 Prozent regelmäßig laktosefreie Produkte. Dass laktosefreie Milch, Sojamilch, Reismilch in der Regel ein Vielfaches kosten und geschmacklich keine Vorteile haben, wird dabei gern in Kauf genommen.

Ohne tatsächliches Leiden gibt es keinen Grund, z.B. laktose-, gluten-, histamin- und fast-alles-freie Produkte zu kaufen. Auch wenn gesunde Qualität suggeriert wird, die Hoffnung, dass diese Produkte auch aus anderen Gründen gesünder seien, geht nicht in Erfüllung.

Viele Konsumenten sind der Überzeugung, dass das Essen generell als Bedrohung für die Gesundheit anzusehen ist, und fürchten, dass alles krank macht. Überall steckt Gift drinnen, wer das im Bekanntenkreis in die Runde verkündet, erntet keinen Widerspruch. Die unzählbaren Lebensmittelskandale hinterlassen auch ihre Wirkung im Bewusstsein in Form von Misstrauen.

Chronologie des Grausens

Die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion hat wesentlich zur Verdammung beigetragen. Gemüse, das nie mit Erde in Berührung kam, Tomaten mit Industrieabwässern gegossen, salmonellenverseuchte Hühnereier, Todesfälle aufgrund von BSE-Fleisch, verdorbenes Fleisch als frisch in Supermärkten angeboten, Nitrat, Nitrit, Quecksilber im Gemüse und in Salaten, dioxinhaltiges Olivenöl usw. Ach ja, da war ja noch etwas: Glykol im Wein, nicht zu vergessen. Bilder von Hühnerfarmen die einem lange den Appetit verderben, Berichte über Hormon-Kälber, mit Medikamenten vollgepumpte Schweine, die Kreislaufmittel bekommen, damit sie nicht vor dem Schlachten sterben, verändern selbst bei robusten Grobschmeckern die Essgewohnheiten. Das sind die Auswirkungen der Wirtschaftswunderjahre, einer Zeit, in der möglichst viel und billig bis zur Übersättigung geschlemmt wurde. Dann kam der befreiende Kalorienknick und Cholesterin wurde plötzlich zum Volksfeind Nummer eins erklärt. An falscher Ernährung sterben mehr Menschen als im Straßenverkehr, belegen unzählige Statistiken.

Bewusst und selbstbewusst essen

Die Menschen sollen essen, wonach ihnen ist, rät Udo Pollmer. „Der Körper fordert ein, was er braucht“, sagt er. Schließlich ist der Wunsch am Ende sowieso immer stärker. „Dieses Gefühl, das uns der Appetit vermittelt, ist so stark, dass es sich gegen den Kopf über kurz oder lang durchsetzt. Jede junge Frau, die eine fettarme Abnehmdiät macht, weiß, dass bei nahender Regel der gute Vorsatz in sich zusammenfällt.“ Scheitern ist ein logischer Bestandteil in der Philosophie mit den strengen Essgeboten.

Viele verordnen sich strikte Essgewohnheiten, sind aber sonst nicht so gesundheitsbewusst. Es darf zwar kein Salz und kein Sonstwas im Essen sein, aber für Zigaretten und Alkohol gilt vielfach keine Selbstbeschränkung. Aber auch hier ist Pollmer der Überzeugung, nicht mit Ratschlägen und Zeigefinger auf andere loszugehen, und kommt zu dem Schluss: „Die Menschen sollen essen, wonach ihnen ist.“

Die Mythen um das Essen
  • Connector.

    Kohlenhydrate machen dick

    Nein, dickmachend sind nur die raffinierten Kohlenhydrate in Weißmehlprodukten, wie z. B. Weißbrot und Nudeln. Gute Kohlenhydrate, wie sie in Vollkornbrot, Bohnen, Obst und Früchten stecken, sind eine wesentliche Energiequelle für den Körper und enthalten viele wichtige Nähr- und Ballaststoffe.

  • Connector.

    Kalorien in der Nacht gegessen machen dick

    Was zählt, ist nur die Menge. Zu welcher Zeit sie gegessen werden, macht keinen Unterschied.

  • Connector.

    Schwer verdauliches Lebensmittel macht dick

    Eine unlogische Theorie: Sind Lebensmittel tatsächlich schwer verdaulich, können sie auch nur schwer verstoffwechselt werden und somit würden auch weniger Kalorien vom Körper aufgenommen. Die Folge wäre dann, eine Gewichtsabnahme. Doch auch dafür gibt es keinerlei empirische Beweise.

  • Connector.

    Die Mikrowelle neutralisiert Nährstoffe

    Je länger man Essen kocht, desto mehr Nährstoffe gehen dabei verloren – ob mit Mikrowelle, Holzkohlegrill oder auf dem einfachen Herd spielt dabei keine Rolle. Da mit Mikrowelle kürzer erhitzt wird, könnten Nährstoffverluste sogar vermindert werden.

  • Connector.

    Mehrere kleinere Mahlzeiten sind besser

    Mit jeder Mahlzeit wird der Stoffwechsel angeregt, wodurch Kalorien verbrannt werden. Mehrere Mahlzeiten halten den Stoffwechsel zwar länger am Laufen, doch die Differenz der dadurch verbrannten Kalorien ist nicht nennenswert. Einzig kleinere Imbisse zwischendurch können den Hunger so klein halten, dass sonst nicht zu viel gegessen wird.

  • Connector.

    Regelmäßiges Fasten dient zur Entgiftung

    Der Mensch verfügt über sehr intelligent gestaltete Entgiftungssysteme, und zwar über eine Leber, zwei Nieren und eine Milz. Eine Entgiftung durch regelmäßiges Fasten wurde bislang nicht nachgewiesen.

  • Connector.

    Glutenfreie Ernährung ist gut für alle.

    Leidet ein Mensch nicht an einer Glutenunverträglichkeit, sei es Zöliakie oder Glutenintoleranz, macht glutenfreie Nahrung keinen Unterschied. Wer eine Unverträglichkeit fürchtet, soll unbedingt zum Arzt.

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